Meer und große Steine

Kategorie: Leben in Spanien Seite 2 von 3

Über das Leben in Spanien, Land und Leute

Positiv/Negativ

Vor zwei Tagen mussten wir mal wieder eine PCR machen lassen. Stäbchen in die Nase und in den Rachen, fies fies. Nummer drei für meine Petita, Nummer zwei für Juni, mich und meinen Mann.

Die “Erkältung” der Nachbarin hat sich als Corona-Infektion entpuppt. Ausgerechnet einen Tag vorher war die ganze Familie bei uns gewesen, die Kinder haben getobt und gespielt (und alles angefasst). Ich habe mich schon leicht paranoid gefühlt, weil ich alle Fenster aufgerissen und so gut es ging auf Abstand geachtet habe, aber nunja, Masken hatte keiner von uns auf.

Wir treffen uns sowieso nur mit diesen Nachbarn und einer anderen Familie, aber genau das ist ja das Problem, es wird vertrauter und doch habe ich nicht genug Mumm, die Nachbarn beim ersten Hüsteln raus zu schmeissen. Es ist so schwierig in diesen Situationen, eigentlich sollte die Pandemie-Etikette sein, bei dem leisesten Anzeichen zu Hause zu bleiben (und nicht zu klingeln und die Kinder mitzubringen). Jetzt haben wir den Salat.

Nach einem Tag voller Bangen und einer großen Putzaktion meinerseits haben wir heute unsere Ergebnisse bekommen: Von drei Familien, mit denen die Nachbarn in Kontakt waren, sind alle negativ getestet worden – bis auf mich. Die Nachbarsfamilie ist gesammelt positiv. Zwei Schulklassen und drei Familien sind damit in Quarantäne geschickt worden, etwa 53 Menschen. Wegen einem kleinen “Schnupfen”.

Meinem Mann war das Ergebnis heute nicht geheuer, also haben wir noch privat einen Schnelltest machen lassen. Wieso haben er und die Kinder nichts und ich schon? Also nochmal den palo in die Nase, unter Protest und Weinen beider Kinder und zwanzig Minuten warten. Und siehe da, alle negativ. Öh? Tja, kann sein. So ein Antigentest ist nicht so sensibel wie eine PCR und kann negativ ausfallen, wenn wenig Viruslast vorhanden ist. Direkt nochmal bei Drosten nachgehört und ja nun. Schrödingers Infizierte…Ich habe jetzt ein “Zertifikat” von der privaten Praxis, dass ich kein Corona habe und eine PCR-Analyse mit positivem Ergebnis. Da letzteres aber das ist, was uns verpflichtend nach Hause bannt, ändert sich nichts an der Situation.

Aber für mich ist es schön zu wissen, dass ich die Kinder nicht letzte Nacht angesteckt habe, als ich bei ihnen im Bett mit eingeschlafen bin. Und es gibt ja auch ein bisschen Hoffnung, wenn die Viruslast nicht so hoch ist, wird es ja vielleicht auch mild verlaufen? Oder ist das schlimmste schon vorbei? Hatte ich vielleicht schon viel früher eine Infektion, die ich nicht richtig bemerkt habe? Soll ich mich jetzt nochmal Testen lassen in ein paar Tagen, um sicher zu gehen?

Habe ich Symptome? Hatte ich Symptome? War da ein leichter Kopfschmerz? Und dieses Kratzen im Hals letzte Woche? Ich lausche in mich hinein und höre auf meinen Atem.

So oder so: Ab heute muss ich mich zehn Tage in einem Zimmer isolieren. Alles muss ständig gewaschen werden, alles soll gewischt und desinfiziert werden, jeden Tag neue Handtücher, neue Anziehsachen – die Wäscheberge sind jetzt schon riesig. Solange wir keine Sicherheit haben, betrachte ich mich als positiv und tendenziell ansteckend.

Zehn Tage, wo mein Mann und die Kinder ohne Hilfe auskommen müssen. Zum Glück sind wir schon im neuen Haus und haben zwei Bäder und genug Platz für alle. Zum Glück haben wir liebe Menschen um uns herum. Eine Freundin hat den Kindern Glitzertattoos in den Briefkasten gelegt (danke, L!) und geht für uns einkaufen. Meine Jobs sind gerade zum Glück alle an einem guten Punkt und ich kann eine Pause machen, zumindest übers Wochenende, bis wir sehen, wie alles läuft und wie es mir geht.

Jetzt müssen wir nur noch diese ganze Zeit herum bekommen.

Achterbahn

Eigentlich fehlen mir die Worte und dann sprudelt es aus mir heraus, sobald jemand fragt, wie es uns geht. So viel ist passiert. Die Ausgangssperre. Sechs Wochen in der kleinen Wohnung mit den dreijährigen Zwillingen. Das abendliche Klatschen. Der Blick auf das Altenheim gegenüber und die Pflegerinnen, die uns Mut zuriefen. Der Geburtstag von meinem Freund, der Kindergeburtstag mitten in der Ausgangssperre. Das bedrückende Gefühl, als ich das erste Mal wieder draußen war, in einer neuen Welt voller Masken, mit Schlangen vor den Geschäften und Menschen mit Angst in den Augen. Und trotz allem auch lustige Momente, dank der Kinder, für die Kinder. Und trotz allem schöne Momente, surreal und hoffnungsvoll. Als alles stillstand und auf den Straßen kein Auto fuhr. Wie die Flugzeuge ausblieben. Eine Pause von allem. Delfine vor der Küste, Wildschweine in den Straßen und Vogelgezwitscher.

Und irgendwann hing uns der Blick auf die Häuser ringsherum zum Halse heraus und die Elster in der Pinie hatte ihr Nest verlassen. Das Klatschen wurde jeden Abend weniger und hörte irgendwann auf, am letzten Tag sollten alle noch einmal kommen, ein Abschlussklatschen sozusagen, aber die Motivation war dahin.

Die Kinder. Jede Woche haben wir das Kinderzimmer umgeräumt, wir haben alle Mehl- und Matsch-Ideen durchprobiert, wir haben getanzt und zuviel ferngesehen, auf unserem kleinen Balkon den Boden bemalt und den Großeltern zugewunken und Schokoladenkuchen gebacken zum Geburtstag. Ein paar Mal haben wir uns ein leckeres Essen vom Thailänder bestellt. Es kamen Pakete zum Geburtstag mit bunten kleinen Sachen und Badespaß, ein fröhlicher Gruß aus einer anderen Welt.

Die Erzieherinnen aus dem Kindergarten schicken Videos mit Geschichten und Liedern und in der Eltern-Whatsapp-Gruppe schickten die Kinder kleine Videobotschaften. Alles war so plötzlich vorbei, dass die Kinder sich garnicht mehr von ihren Freunden verabschieden konnten. Petita erklärte, sie würde alle Kinder umarmen und küssen, wenn sie sie wiedersähe. Und ein großes Fest machen und alle alle einladen. Was für ein Glück, das die zwei sich noch hatten. Endlich mal ein wahrer Vorteil für Zwillinge.

An manchen Abenden bin ich nochmal aufgestanden und habe mich mit meinen Freundinnen zusammengerufen. Wir haben geredet bis spät nachts, bitter gelacht und Wein dazu getrunken.

Dazwischen versucht zu arbeiten, sich irgendwie zu konzentrieren und ein Stück Alltag zu haben. Mit den Kollegen in Deutschland zu sprechen, für die alles so anders war und die ich um die geöffneten Spielplätze beneidet habe, um die Spaziergänge und die Zwei-Personen-Regel. Zoom wird ein Fenster in eine andere Welt, so anders erleben meine Familie und Freunde und Kollegen das alles. “Wieso ist es hier so schlimm und in Deutschland nicht?” rätseln wir in Spanien. Und wir finden tausend mögliche Gründe. “Wir sprechen lauter!” “Wir leben mehr in den Familienverbänden”. Ich sehe vor allem ein politisches Versagen, eine zu langsame Reaktion – fast schon negieren – von dem, was da auf uns zukam.

Und in unserer kleinen Stadt wurde das Hotel umgenutzt zur Krankenstation, die Intensivstation vergrößert. Und wir warteten darauf, dass die Kinder endlich raus dürften.

Ein paar Monate später, als wir schon wieder durch die Innenstadt spazieren konnten, trafen wir eine Freundin, eine Lehrerin, die erzählte, wie sie geweint hat darüber. Die Kinder zwei Monate einzusperren. Und dann das Lästern, als sie endlich wieder rausdurften: “Guckt mal, wie schlecht die das machen!, die halten ja gar keinen Abstand…”

Was für ein trauriger Anblick das war mit den leeren Straßen ohne Kinder. Als wir den ersten Tag draußen waren, stand ein kleines Mädchen am Balkon und rief: “Papa, Papa, da sind noch mehr Kinder!” Als hätte sie vergessen, dass sie nicht das einzige Kind auf der Welt war.

Und die Alten. Im Altenheim uns gegenüber eingesperrt, für Monate. Der Alarmzustand war schon längst vorbei und noch immer durften sie nicht raus und niemand durfte rein. Meine Schwiegeroma lag dort drin. Irgendwann durften wir uns vor die Tür stellen, zum winken. Der Sohn und die Tochter konnten erst zu ihr, als sie im Sterben lag, um sich zu verabschieden. Immerhin das, aber ach…so behandelt ein Land seine Alten und Kinder?

Und dann wurde unser Haus einzugsfertig und wir konnten endlich die kleine Wohnung verlassen. Was für ein schöner Moment, um umzuziehen und sich neu einzurichten. Wir hatten so Sorge, dass wir es nicht bis zur nächsten Ausgangssperre schaffen und hatten noch genug vom Sommer übrig, um es uns auf der Terrasse schön zu machen und den Strand zu genießen.

Bis hierhin.

Der ewig lange spanische Sommer…

Das Jahr neigt sich dem Ende entgegen, dabei habe ich gedanklich gerade erst Abschied vom Sommer genommen. Der Herbst war bis letzte Woche so mild, dass wir erst vor ein paar Tagen die dicken Jacken rausgeholt haben (und es sind nur 15 Grad, die sich aber echt sehr kalt anfühlen!) Der hiesige Herbst war also eher ein sehr langer Spätsommer, mit viel blauem Himmel und wenig fallenden Blättern. Manchmal wünsche ich mir fast ein paar Regentage hintereinander, statt dieses zaghafte Getröpfel ab und an. Aber das ist eine andere Geschichte.

Zurück zum spanischen Sommer. Zu diesem gehört nämlich ein Phänomen: Im August hat Spanien zu. Die Städte liegen wie ausgestorben da, in Barcelona fliehen die Einheimischen vor der Hitze in kühlere Regionen, in den Ladenfenstern hängen Zettelchen “Wir kommen am 1. September wieder!” Leider betrifft dieses Phänomen zwar die öffentlichen Kindergärten, aber nicht unsere Arbeitsplätze.

Also standen wir auch in diesem Sommer wieder vor der Frage: Was machen wir so lange mit den Kindern? Die Sommerferien beginnen Ende Juni und enden nach der ersten Woche im September. Da reichen sechs Wochen Jahresurlaub nicht (und noch weniger, wenn man noch Tage für den Weihnachtsbesuch in Deutschland braucht).

Was tun?

Für den Juli hatten wir zwei Optionen: Großeltern oder casal d´estiu, die Sommerbetreuung im Kindergarten. Letzteres hatten wir voriges Jahr schon ausprobiert und nun ja, es war ok, aber für die damals einjährigen nicht das richtige. Unsere kleinen Krabbelwesen schwitzten im unklimatisierten Kindergarten vor sich hin, es war teuer (man muss den einen Monat extra bezahlen, plus Mittagessen waren das so um die 1000 Euro für zwei Kinder) und überhaupt hatten wir nicht so richtig Freude an diesem Konzept. Dieses Jahr entschieden wir uns also für die traditionelle Variante: Die Großeltern springen ein.

Hier ist es durchaus üblich, die Familie so stark in die Kinderbetreuung einzubinden. Teils, weil es nicht anders geht, teils, weil die Großeltern es fast für selbstverständlich oder gar ihre Pflicht halten, auf die Enkel aufzupassen. Als ich noch im Mutterschutz war (den ich dank unserer Ersparnisse auf ein Jahr ausgeweitet hatte) sah ich beim morgendlichen Spaziergang mit Kindern überall Yayos und Yayas mit Kinderwagen: Am Strand, beim Einkaufen…bis die Eltern von der Arbeit kamen, um die frisch gebadeten und gut gefütterten Kleinen in Empfang zu nehmen.

Als unsere mit knapp einem Jahr in den Kindergarten kamen, lamentierte meine Schwiegermutter darüber, dass sie leider noch nicht in Rente sei, um die Betreuung zu übernehmen. Mir hingegen fiel und fällt es eher schwer, die beiden so lange bei den Großeltern zu lassen. Vielleicht, weil ich selbigen ein eigenes Leben zugestehe und nicht davon ausgehe, dass sie Lust haben, fünf Tage die Woche auf zwei zweijährige aufzupassen. Hat das was mit der deutschen Mentalität zu tun? Oder liegt es daran, dass es mir leid tut, dass meine Eltern die beiden nie so intensiv erleben werden – gerade im Moment, wo so viel passiert und sie jeden Tag mehr sprechen, mehr teilen, mehr mit einem erleben und verstehen.

Meine Schwägerin macht dagegen ganz selbstverständlich von ihren Eltern Gebrauch. Der kleine Primo ist zwar im Kindergarten angemeldet, aber effektiv ist er, seit sie wieder arbeitet, jeden Tag bei seinen Yayos.

Im Juli übernahmen also die Großeltern. Und es lief super. Yayo hat sich einen Haufen Spiele und Aktionen ausgedacht und es immer wieder geschafft, mit einfachen Mitteln und ein bisschen Albernheit etwas Neues zu erfinden. Fast jeden Tag kamen die beiden mit irgendwelchen Kreationen nach Hause: Ausgeschnittenes Obst und Gemüse aus Papier, ein Schuhkarton mit Schnur als Eisenbahn oder hochdekoriert mit selbstgebastelten Krönchen und Armreif. Die Yaya erfüllte alle Klischees und sorgte für reichlich essen, ordentlich gekämmte Seitenscheitel und ausgehfeine kleine Damen.

Insgesamt ein voller Erfolg, auch wenn ich beide Augen fest zudrücken und mir vorsagen musste: “Es sind Ferien. Das ist ein Ausnahmezustand. Sie tun uns einen Riesengefallen. Die Kinder lieben es “. Für meinen Geschmack gab es zu viel Kakao und Keks und gezuckertes, zu viel Zeichentrick und zu viel “Rosa-Hellblau-Falle”. Bei der Kinderziehung liegen zwischen mir und meinen Schwiegereltern wirklich Welten.

Im August schlossen wir uns den Massen an und nahmen Urlaub. Das erste Augustwochenende sorgt traditionell für Staus auf den Straßen, also warteten wir noch ein paar Tage, bevor wir uns auf den Weg machten. Wie letztes Jahr hieß es: Vamos al Pueblo! Dort verbrachten wir ein paar Wochen mit der engeren und entfernteren Verwandtschaft. Von dort aus ging es dann, mit einem kurzen Zwischenstop zu Hause, nach Deutschland zu meiner Familie. Der Mann und ich sprechen immer augenzwinkernd von ausgleichender Gerechtigkeit, denn: Er findet es in Deutschland ähnlich spannend wie ich im Dorf. Also mäßig. Irgendwie ist beides schön, aber auch ein bißchen langweilig für den jeweils anderen. Die Kinder haben natürlich überall Spaß und haben es vor allem sichtlich genossen, das wir so viel Zeit mit ihnen verbracht haben.

Trotzdem würden wir nächstes Jahr noch etwas Familienzeit zu viert einplanen – denn so richtigen Familienurlaub, das haben wir immer noch nicht gemacht.

Plötzlich ausgewandert

Beim letzten Deutschlandbesuch fragte meine Cousine: “Und wie ist das so, Du bist ja jetzt ausgewandert?” “Jetzt bin ich die Ausländerin.” antwortete ich. Viel mehr fiel mir nicht ein. Das Gefühl, in einem anderen Land zu leben, lässt sich schwer in Worte fassen. Und sich einzugestehen, dass man vielleicht nie zurückkommt, ist nicht weniger schwierig. Als wir damals nach Spanien gezogen sind, war es ja zunächst nur ein Versuch. Wir hatten einige Jahre in Berlin gelebt und immer wieder tauchte das Thema auf: “Wollen wir irgendwann mal in Spanien leben?” Und wenn ja, wann?

Jetzt oder nie!

So kamen wir an den Punkt, zu sagen: Jetzt oder nie! Einen richtigen Zeitpunkt würden wir sowieso nie finden. Die Familienplanung hatten wir auch schon im Hinterkopf (damals wussten wir noch nicht, dass das nicht ganz so einfach werden würde) und der Gedanke, Kinder in Berlin zu bekommen, gefiel mir ganz und gar nicht. Ich mag Berlin, aber es ist für mich kein Ort, an dem ich meine Kinder großziehen möchte. Umso idyllischer war das Bild von einem kleinen spanischen Küstenort mit Strand und Meer und viel Sonne! Aber zunächst war das Thema Kinder für uns ziemlich weit entfernt, der Umzug und der Neuanfang in einem mir fremden Land standen im Vordergrund.

Also packten wir Kisten um Kisten, verkauften die meisten unserer Möbel und brachen eines Tages auf. So oft wir vorher in Spanien gewesen waren: diese Ankunft fühlte sich vollkommen anders an. Bis wir eine Wohnung fanden, wohnten wir in einer kleinen Ein-Zimmer-Wohnung von Freunden im Herzen von Barcelona. Noch war es ein bißchen wie Urlaub: Die Spaziergänge durch Barcelona, die fremde Wohnung, die Reisekoffer mit den nötigsten Sachen.

Dazwischen besichtigten wir Wohnungen. Vom ehemaligen Kosmetikstudio mit Milchglastüren und Dusche im “Wohnzimmer” bis hin zur Jugendstil-Altbauwohnung mit geschnitzten Blütenblättern im Türrahmen und Göttinnenstatue im Eingangsbereich war alles dabei. Der Wohnungsmarkt war (und ist immer noch) heiß umkämpft und die Makler drängten einen geradezu, sich sofort zu entscheiden. Niemand sagte “Schlaf nochmal drüber!” Hier hat man am besten schon die Maklerprovision bei der Besichtigung dabei, damit einem niemand die Wohnung unter der Nase wegschnappt.

Unsere erste Wohnung bekamen wir nur, weil wir gleich nach dem Besichtigungstermin zur Bank gingen und am Nachmittag Geld im Maklerbüro hinterlegten, “zum reservieren”. Würden wir uns anders entscheiden, wäre das Geld futsch gewesen. So ein Stress! Was, wenn wir in der Zwischenzeit eine schönere Wohnung finden würden? Wie war der Boden nochmal – war der nicht irgendwie häßlich gewesen? Ausgerechnet bei dieser Wohnung hatte ich kein einziges Foto gemacht! Und die Möbel sollten alle da drin bleiben? Und überhaupt, was war das für eine irre Idee, auf einmal in ein anderes Land zu gehen und dort einen Mietvertrag zu unterschreiben? War ich jetzt schon wirklich, richtig ausgewandert?

In solchen Momenten fliegt die Zeit. Keine Innehalten, kein Überdenken, wofür? – man ist ja schon längst da, die Spedition ist unterwegs, die alte Wohnung in Deutschland längst vermietet. Also haben wir den Mietvertrag unterschrieben und bald darauf die ersten Kisten ausgepackt. Haben erleichtert festgestellt, dass der Boden doch schönes Parkett ist und kein Imitat. Haben uns im neuen Leben eingerichtet: Da ist das Meer, da ist der kleine Laden um die Ecke mit dem guten Brot und der netten Besitzerin, das ist die Nachbarin auf dem Balkon, da ist der Supermarkt. Dabei bin ich in Gedanken an frühere Urlaube versunken. Diese verschlafenen kleinen Örtchen, durch die man manchmal kam und ein “zu verkaufen”-Schild sahst und dachtest: Was wäre wenn? Oder wenn man schon so lange an einem Ort war, dass man alle Wege kannte, “sein” Café hatte, seine Urlaubsroutine und Lieblingsorte und sich fragte: Was, wenn ich bleibe? So fühlte sich das Ankommen an.

Bleiben, wenn der Sommer vorbei ist

Der Winter kam und der Strand war leer und windig. Die Chiringuitos (die Strandbars) wurden abgebaut. Die Wellen schlugen höher und fraßen ein Stück vom Land. Die Bars und Plätze blieben leer. Man muss arbeiten, man hat seine Routinen, man muss einkaufen, man hat nicht viel Geld. Der Sommer ist für alle vorbei, nicht nur für die Touristen.

“Gehst Du oft ans Meer?” fragen mich die Freunde in Deutschland. “Nein”, sagte ich, “ich sitze viele Stunden am Tag am Computer und manchmal treffen wir Freunde und manchmal schauen wir einen Film oder wir gehen essen. Aber es ist immer da, das Meer, hinter dieser Straßenecke.”

“Geht ihr jeden Tag in den Wald? Fahrt ihr jeden Tag an den See?” brauche ich nicht zu fragen, denn ich weiß, ihr sitzt viele Stunden am Tag am Computer und manchmal trefft ihr Freunde und manchmal schaut ihr einen Film oder geht essen. So ist das, wenn man auswandert, man lebt dort einfach, in einem anderen Land.

So oft war ich schon umgezogen und hatte mir neue Städte erobert, dass ich wusste, ich muss nur warten. Irgendwann hat man Freunde, kennt man die Frau von der Gemüsetheke und hat seine eigene Karte von der Stadt im Kopf. Und dann ist man, ganz ohne es zu merken, angekommen.

Ankommen, aber wie?

Zugegebenermaßen war und ist es diesmal schwieriger. Die Tragweite meiner Entscheidung hat es mir nicht leicht gemacht, das neue Leben einfach zu genießen – schließlich bin ich nicht für unverbindliches Auslandssemester hergekommen. Und so ist jeder Moment des Ankommens hier immer auch ein erneuter Abschied. Ich sehe meine Kinder aufwachsen und verabschiede mich von der Idee, gemeinsam mit der besten Freundin tagtäglich am Spielplatz zu sitzen. Ich begrüße den strahlend blauen Himmel und verabschiede mich von rotem Herbstlaub und dem Frühlingserwachen. Ich finde neue Freunde und sehe deren Kindern langsam beim Wachsen zu, während meine Nichten und Neffen in Halbjahres-Sprüngen rasend schnell größer werden. Ich entscheide mich für einen Flug nach Berlin, kann dafür aber meine Familie nicht besuchen.

Die meiste Zeit lebe ich ganz einfach. Genieße die Sonne. Sehe die Kinder am Strand laufen und lasse mir den Winterwind um die Nase pusten. Freue mich über neue Bekanntschaften, über die leckeren Tomatensorten und die frühen Erdbeeren. Es gibt so viele tolle Feste und Feiern, die auf ihre ganz besondere Art und Weise gefeiert werden. Oft vergesse ich ganz, dass ich so einen großen Schritt gemacht habe. Mal bin ich noch Zuschauer, mal mache ich mit.

Dann muss ich an die Einwanderer in Deutschland denken und die Diskussion um Integration und Leitkultur. Seit ich selber in einem anderen Land lebe, frage ich mich: Was genau soll man denn auch machen? Was muss ich dafür tun? Die Sprache sprechen? Die Gebräuche übernehmen? Die eigenen Wurzeln über Bord werfen? Sich eingestehen, dass man vielleicht niemals zurück kommt und selbst wenn, sich vielleicht zu sehr verändert hat?

Egal was ich mache, wie gut ich die Sprache spreche und wie unauffällig ich mich verhalte: Ich werde immer die Deutsche sein. Das einzige was ich tun kann, ist mein Leben ganz für mich zu leben, so wie es mir gefällt. Das kann ich an jedem Ort der Welt tun. Aber wenn ich das schaffe, dann bin ich wohl “angekommen”, in meinem Leben.

Das liebe Geld

Kindergeld, Elternzeit – man lässt sich als Auswandererin ganz schön viel durch die Lappen gehen. Je länger ich in Spanien lebe, desto wundersamer kommen mir all die deutschen staatlichen Geldquellen vor, die es für Familien gibt. 300 Euro pauschal aufs Elterngeld bei Zwillingen? Wow! Baukindergeld? Wahnsinn! Und überhaupt, insgesamt 14 Monate Elternzeit? Unglaublich, wenn man bedenkt, dass frau hier nach vier Monaten wieder arbeiten gehen muss, wenn sie nicht auf ihren Job und die dazugehörigen Einkünfte verzichten kann.

Kinder muss man sich leisten können

Und die spanischen Väter? Bekommen erst seit kurzem einen ganzen Monat frei – früher gab es nur zwei Wochen Vaterzeit. Die vier Monate Mutterschutz kann man gnädigerweise sogar zwischen beiden Elternteilen aufteilen – aber wie realistisch ist es bitte, als Mutter eines dreimonatigen Kindes wieder arbeiten zu gehen, währen der Mann noch einen Monat mit dem Säugling zu Hause bleibt? Immerhin: Für Zwillingseltern gibt es auch in Spanien nochmal eine pauschale Einmalzahlung von etwa 2000 Euro. Dazu bekommt man als arbeitende Mutter drei Jahre lang 100 Euro pro Kind und Monat. Danach war es das. Kein Kindergeld weit und breit, dafür Kindergarten- und Schulgebühren. Und das Studium muss später auch bezahlt werden! Dass Spanien eine ziemlich niedrige Geburtenrate hat, muss ich wohl nicht erwähnen? In Spanien muss man sich Kinder leisten können.

Überhaupt: Dass man hier für Bildung bezahlen muss, ärgert mich sehr. Es gibt einerseits staatliche Schulen, Unis und Kindergärten, für die man einen festen Preis bezahlt. Dazu gibt es noch teure private und weniger teure halb-private Schulen. Viele Eltern versuchen ihre Kinder auf halb-private Schulen zu schicken (colegios concertados), weil sie überzeugt sind, das Lehrniveau sei dort höher. Wer sich eine Privatschule leisten kann, schickt seine Kinder dorthin. Dann gibt es noch einige Eltern, die ihre Kinder aus Überzeugung auf öffentliche Schulen schicken – wegen der Realitätsnähe oder um das Schulsystem zu fördern.

Ein Platz im Kindergarten ist sicher!

Unsere Kinder sind in einem öffentlichen Kindergarten, der uns pro Kind mit Mittagessen etwa 350 Euro kostet. Die Erzieherinnen sind allesamt liebevoll und nett und den beiden gefällt es dort. Die Räume sind nicht besonders geschmückt und eher nüchtern, aber immer jahreszeitlich dekoriert. Außerdem lassen sich die Erzieherinnen oft etwas einfallen: Mal hängen Stoffbahnen von der Decke, in denen sich die Kinder verstecken können, mal gibt es Tobe-Spielwiesen oder Fühlkisten. Uns reicht das. Auf dem Weg zu unserem Kindergarten kommen wir an einem privaten vorbei. Ein Blick in den Eingangsbereich zeigt: Hier sieht es komplett anders aus! Alle Räume sind thematisch wie ein kleines weißes Holzhäuschen dekoriert, inklusive einem kleinen weißgestrichenen Lattenzaun. Es ist bunt und verspielt und alles irgendwie niedlich. So in etwa stelle ich mir den Unterschied zwischen privaten und öffentlich Schulen auch vor: Vor allem materiell wird in privaten Einrichtungen mehr geboten. Das Niveau, bin ich mir sicher, hängt wie überall von den jeweiligen Lehrern ab.

Was hier dafür besonders gut klappt: man bekommt wirklich schnell und unkompliziert einen Kindergartenplatz. Das läuft ähnlich wie in Deutschland bei der ZVS fürs Studium. Wir haben unsere im laufenden Semester auf eine Warteliste gesetzt (man durfte drei Favoriten angeben) und einen Anruf bekommen, sobald es zwei freie Plätze gab. Wir mussten also nur ja oder nein sagen. Das war schon toll, vor allem wenn ich mitbekomme, wie lang und kräftezehrend die Kindergartensuche in Deutschland abläuft.

Die Großeltern helfen aus

Aber natürlich: Wenn Mütter nach vier Monaten wieder arbeiten müssen, braucht es auch ein funktionierendes System. Wenn man es sich als Familie nicht leisten kann, länger zuhause zu bleiben, gibt es zwei Optionen: Die Säuglingsgruppe oder die Großeltern. Man sieht hier wirklich unglaublich viele Großeltern tagtäglich mit ihren Enkeln durch die Stadt spazieren, meine Schwiegermutter inklusive. Das wird hier als etwas ganz normales angesehen – obwohl es für die Yayos und Yayas ganz schön viel Arbeit ist. Dass die Großeltern mal aushelfen, finde ich auch wirklich toll – aber dass sie jeden Tag die Enkel betreuen müssen, weil die Eltern sonst nicht arbeiten gehen können, gefällt mir nicht.

Meine Kinder sind mit etwa 10 Monaten in den Kindergarten gekommen, erstmal nur halbtags. Als Selbstständige konnte ich recht entspannt stufenweise wieder in den Beruf zurück. In der Säuglingsgruppe gab es ein paar ältere und einige jüngere Kinder, sie waren relativ in der Mitte. Für die ganz Kleinen gab es Fläschchen, für unsere Gemüsebrei und ziemlich schnell feste Nahrung. Wer sein Kleines so früh abgeben muss und stillen möchte, steht vor einer Herausforderung. Man darf natürlich abgepumpte Milch mitbringen, aber das bedeutet auch, diese über Tag im Büro oder sonstwo am Arbeitsplatz abzupumpen…da gehört einiges an Ehrgeiz dazu. Zum Glück hatten wir genug Ersparnisse, um uns durch das erste Jahr zu tragen – das war es mir wirklich wert. So viel Zeit mit den Kindern verbringen zu können und sie wachsen zu sehen, ist etwas ganz besonderes.

In ein paar Jahren soll es in Spanien für Väter ebenfalls vier Monate Elternzeit geben – und zwar als Pflicht. Ich hoffe sehr, dass das klappt. Damit wäre auch ein großer Schritt in Richtung Gleichberechtigung getan. Bis dahin sorge ich mit meinen Erzählungen vom Wunderland Deutschland für große Augen: Hebammen, die zu einem nach Hause kommen, Kindergeld weit über das dritte Lebensjahr hinaus – und die vermaledeite Kitasuche!

Verschieden Kinderbücher nebeneinander gelegt

Wir lernen sprechen – in drei Sprachen!

Es ist so weit: Meine Töchter lernen ihre ersten Wörter und schnappen jeden Tag etwas neues auf. Und so sehr ich darauf achte, mit den beiden nur deutsch zu sprechen – die beiden Landessprachen sind auf dem Vormarsch. Vor allem der Kindergarten tut sein übriges: Jeden Tag kommen sie mit neuen katalanischen Wörtern nach Hause. So heisst Fisch nicht Fisch und nicht pescado sondern “peix”. Der kommt im Kindergarten häufig auf den Tisch, scheint´s, denn Hühnchen oder Fleisch nennen sie ebenso.

Angeblich sprechen mehrsprachige Kinder erst später. Ob das so ist kann ich allerdings noch nicht nicht einschätzen. Durch das katalanisch-spanisch gibt es hier ja sowieso eine Menge bilingualer Kinder. Im Kindergarten ist mir noch nicht aufgefallen ob einige Kinder besser oder schlechter sprechen. Allerdings wusste unser Nachbarsjunge im Gegensatz zu den beiden schon mit etwas über einem Jahr sehr viele Wörter, da waren die beiden noch bei “Ta-ta” und “Mama-Papa-Nana”.

Ein Wort für Papa, ein Wort für Mama…

Im Moment lernen sie wirklich jedes Wort in Bezug zu einer Person: Schuhe heißen zum Beispiel auf spanisch “pato!”(zapato), weil es meistens der Papa ist, der mit ihnen morgens die Schuhe anzieht. Von mir haben sie den “Baum” vom Spazierengehen, den “Tiiiiger” aus unserem Einschlafbuch und natürlich die “Milch”. Sie haben “genug”, wenn sie satt sind und sagen sehr energisch “No!” und nur selten “Nei”, wenn sie etwas nicht möchten. Einige Wörter wiederum klingen sehr ähnlich, zum Beispiel “aua” und “agua”: Meine Schwiegermutter denkt jedesmal, wenn das Essen noch heiß ist (“aua!”), sie möchten ein Glas Wasser trinken (“agua”). So ein Kuddelmuddel!

Ein paar Wörter sagen sie sogar schon auf mehreren Sprachen: “¡Hola!” und “Hallo!”, “Adéu” und “Tschüss”. Außerdem gibt es die deutsche “Oma” und die spanische “Yaya”, das ist natürlich praktisch. Katzen und Hunde heißen in beiden Sprachen “Miau” und “Wau wau”.

Verstehen tun sie alle drei Sprachen. Sie wissen, dass die Hand auch “ma” oder “mano” heisst, der Kopf auch “cap” oder “cabeza” und zeigen ihre Füße her, auch wenn sie “pies” oder “peus” genannt werden. Nur für mich beginnt die Herausforderung Dreisprachigkeit jetzt erst recht – hoffentlich klappt das mit dem deutsch lernen auch! Da mache ich mir manchmal Gedanken, ob sie nicht doch auf die deutsche Schule sollten. Dagegen spricht, dass sie dann wiederum so wenig Kontakt mit den Kindern hier vor Ort hätten und wir sie immer mit dem Auto nach Barcelona bringen müssten. Bisher bin ich aber zuversichtlich, das es auch so geht. Es gibt genügend andere deutsche Mütter hier vor Ort und bei den Besuchen in Deutschland oder umgekehrt hören sie ja doch wieder viel deutsch.

Meine Sprache, meine Kultur

Gerade weil ich im Ausland lebe, ist es mir wichtig, den beiden meine Sprache und Kultur näher zu bringen – das wird sicher in den kommenden Jahren noch ein Thema. Ostereiersuche, Sankt Martin, Adventskalender und Weihnachtsmarkt gehören nun mal nicht zum spanischen Kulturgut. Hier gibt es natürlich auch viele für Kinder schöne Feste – aber etwas wehmütig werde ich schon, wenn ich daran denke, dass sie wohl nie im Kindergarten Laternen basteln. Und der Kölner Karneval wird sicher auch keinen großen Stellenwert in ihrem Leben haben. Wirklich schlimm ist das natürlich nicht, aber ich merke: Als Mama möchte ich den Kindern gerne meine eigenen schönen Kinderheitserlebnisse mitgeben – oder besser: Ich selber verbinde mit “Kindheit” eben diese Feste und Feiern. Und nun habe ich da zwei kleine Spanierinnen, die wahrscheinlich eine hauptsächlich spanisch-katalanische Kindheit haben werden.

Sie lieben die katalanischen Lieder aus dem Kindergarten und wollen immer wieder zur “Castanyera” tanzen, also lerne ich die Texte auswendig und singe sie ihnen vor. Wenn der Mann und ich miteinander reden und wir die Kinder ins Gespräch einbeziehen, wechseln wir auch nicht immer die Sprache, meistens wiederhole ich aber ein Wort oder einen Satz auf deutsch.

Ansonsten haben wir viele deutsche Kinderbücher und dank YouTube wird es sicher irgendwann mal Sendung mit der Maus oder ähnliches auf deutsch geben. Bisher haben wir noch viele Bücher ohne oder mit nur sehr wenig Text, die sich vor allem über die Bilder vermitteln – da erzählt dann jeder in seiner Sprache etwas dazu. Besonders toll geht das mit “Gute Nacht, Gorilla”, oder Wimmelbüchern. Seit langem beliebt und immer mal wieder aus dem Regal geholt werden “Piep, piep, piep” und “This is not a book”. Außerdem singen wir uns kreuz und quer durch unsere deutschen Liederbücher (wirklich schön: Das Kinderlieder-Buch aus dem Liederprojekt – die Mädels lieben die Illustrationen!).

Jetzt stehen erstmal zwei Wochen Deutschlandbesuch auf dem Programm, mal sehen welche Worte die beiden dort aufschnappen 🙂

Steinige Landschaft mit Olivenbaum

Vamos al pueblo

“Wo fährst Du diesen Sommer hin?”, fragt man sich, wenn die Hitze zu schwer wird und die großen Ferien beginnen. “Vamos al pueblo”, antworten wir und schon wissen alle Bescheid.

El pueblo, das bedeutet vielen Menschen eine zweite Heimat. Hier kommen sie “eigentlich” her, hier haben ihre Familien mehrere Generationen lang gelebt, bevor ihre Eltern und Großeltern in den 60er Jahren in die Städte zogen.

Die Enkel tragen das Dorf weiterhin im Herzen, in Erinnerung an endlos lange Sommerferien mit den Großeltern, in denen sie mit ihren Freunden den ganzen Tag durchs Dorf stromerten und in alten Ziegenställen Hütten bauten.

“Unser” Dorf liegt am Ende einer Straße, inmitten einer steinigen Mondlandschaft. Nachts sieht man unzählige Sterne leuchten und der Wind trägt die Stimmen der Nachbarn zu uns ans Fenster. Im Morgengrauen und der Abenddämmerung kann man mit etwas Glück eine Herde wilder Ziegen auf den schotterigen Straßen entdecken, die in die Landschaft hineinführen. Geht man eine Weile darauf spazieren, sieht man irgendwann die Geier über sich am Himmel kreisen, manch einer sitzt auch, ganz Klischee, auf einem abgestorbenen Ast hoch oben am Hang und blickt auf Dich herab. Abseits der Wege knistern die trockenen Sträucher unter Deinen Füßen, ein staubiger Duft nach wildem Thymian und Lavendel steigt Dir in die Nase.

Je weiter Du dich in diese Landschaft hinein begibst, desto mehr verändert sich Dein Blick auf sie. Eine Distel leuchtet in grellem Violett, die lehmige Erde steckt voller kleiner Fossilien, Muscheln und Meeresschnecken aus Stein. Aus der wüsten Landschaft wird ein Meeresgrund, die Eintönigkeit wird zu einer Vielfalt an Farben, Gerüchen und Bildern.

Im Sommer wird das Dorf bevölkert von Enkeln, Großeltern, Tanten und Cousinen. Man könnte meinen, alle sind miteinander verwandt. Tatsächlich gibt es etwa vier große weitverzweigte Familien hier und mehrere “kleine”. Auf dem Friedhof wiederholen sich viele Namen auf den Grabsteinen. Ständig muss man Onkel und Tante so-und-so grüßen und die Anzahl an Cousins meines Mannes schien mir anfangs schier unüberschaubar. Nach und nach fand ich heraus, wer “primo hermano” war (also ein direkter Cousin) oder “primo segundo” (zum Beispiel der Enkel eines Cousins des Großvaters mütterlicherseits).

Zu Maria Himmelfahrt am 15. August wird es dann richtig voll: El pueblo en fiestas! Eine Woche lang herrscht Ausnahmezustand. Ein Auto nach dem anderen kommt auf den Platz gefahren, die Ankommenden werden begrüsst, später trifft man sich auf ein Bier oder einen Kaffee, erstmal auspacken. Abends verwandelt sich der Dorfplatz in das Festgelände, Bands mit mehr oder weniger spektakulären Kostümen und Bühnenshows covern (mal gut, mal schlecht) Bon Jovi und alle grölen mit: “It´s my Life!” Irgendwann bleiben nur noch die “Jungen” übrig. Um sechs Uhr morgens ist die Nacht offiziell vorbei und es wird zur “recena” gerufen – es gibt belegte Brote für die hungrigen Feiernden. Dann, endlich, kann man ans Schlafen denken. Nach einer ereignisreichen Woche voller spanisch-aragonesischer Folklore und exzessiver Feierei endet das Fest. Erschöpft und verkatert finden sich alle auf dem Dorfplatz zum großen Abschlussessen zusammen, die ersten brechen auf, zurück in die Stadt.

Im Dorf gibt es keinen Laden: der Gemüsehändler, der Bäcker, der Haushaltswarenhändler und der Mann mit den Konserven und Tiefkühlprodukten kommen ein- bis mehrmals die Woche vorbei, wann und wie wissen die Omis und Opis, die hier den ganzen Sommer verbringen. Pünktlich finden sie sich morgens auf dem Platz ein, um ihr Brot zu kaufen. Wer erst kommt wenn er die Hupe des Händlers hört, kann auch mal eine Stunde warten. Also wird ein Stuhl aus der Bar geholt, man hat Zeit. Es wird geplauscht und gelästert. Geheimnisse halten sich nicht lange.

Im Winter liegt das Dorf fast verlassen da. Ein paar Wochenend-Besucher sind da, es riecht nach verbranntem Holz aus den Kaminfeuern. Richtig warm wird es in den alten Häusern nicht. In den Hängen werden Oliven geerntet. Die Bar hat geschlossen, nur an den Feiertagen wird geöffnet. Die Städter kommen und in der alten Dorfschule gibt es wieder Parties mit wilden Besäufnissen und lauter spanischer Schlagermusik.

Im Januar kommt die Stille wieder ins Dorf zurück. Die steilen Straßen gehören wieder den streunenden Katzen und die Steinchen unter deinen Füßen knirschen laut bei jedem Schritt. Das Dorf hält Winterschlaf.

Fettnäpfe

Spain is different hieß es in den sechziger Jahren auf Werbeanzeigen für Spanien. “So ein Quatsch”, meinte meine Mutter, als ich gerade frisch nach Spanien gezogen war und ihr erzählte: “Mama, hier ist alles ganz anders, ich kenne mich garnicht mehr aus”. “Wir sind alle Europäer, und alle Menschen sind gleich.” Natürlich hatte sie Recht. Spanien gehört zu Europa und alle Menschen leben, lieben, essen, trinken, fühlen und müssen aufs Klo. Aber sie hat auch unrecht, denn seit ich hier lebe, bin ich die Deutsche, bin ich Ausländerin in einem mir fremden Land. Im ersten Jahr hier fiel mir das besonders auf, mittlerweile nur noch bei akuten Fettnäpfchen.

Je mehr ich Land und Leute kennenlernte, desto fremder fühlte ich mich in den ersten Monaten. Nichts konnte ich mehr: Nicht mehr auf die richtige Weise grüßen, den richtigen Tonfall in einer Unterhaltung treffen, über einen Witz lachen. Mir waren die Höflichkeit, der Humor, die Subtilität und mein großer Wortschatz abhanden gekommen. Ich hatte (und habe) einen Akzent der mich immer als Deutsche entlarvt, manche halten ihn für französisch, angeblich würde ich das R so komisch rollen wie die Franzosen, nun ja.

Denken spiegelt sich in der Sprache wieder, sagt man, sagte irgendwer, und je mehr ich von der Sprache lernte, desto mehr sah ich, was für unterschiedliche Konzepte verschiedene Kulturen von ein und derselben Idee haben können. Immer noch verwechsle ich hören und zuhören, aus dem Deutschen kommend reicht mir ein Verb und ein Präfix und in meinem Kopf bleibt auf ewig escuchar für hören eingespeichert. “Ich höre dir nicht zu!” rufe ich meinem Mann aus dem Wohnzimmer in die Küche zu und unser Besuch lacht, weil das so unhöflich ist, aber das wollte ich ja garnicht sagen.

“Es ist nicht unhöflich, den anderen im Gespräch zu unterbrechen.” musste ich mir ab und zu vorsagen, um überhaupt zu Wort zu kommen. Die politischen Sendungen im Fernsehen sind ein einziger Gesprächsbrei, alle werden immer lauter, meine eingeschalteten Untertitel sagen Alle reden gleichzeitig und irgendwann, kurz bevor man nichts mehr versteht, greift die Moderatorin ein und bricht alles ab und dann darf jemand einen Satz sagen und sofort fangen alle wieder an sich zu verteidigen, zu schimpfen und versuchen den anderen zu übertönen.

“Fall nicht immer mit der Tür ins Haus”, ermahne ich mich, wenn ich etwas von jemanden möchte. Erst muss man fragen, “Wie geht es Dir?”, und dann muss das Gespräch ein bißchen vor sich hin plänkeln und dann rückt man irgendwann mit seiner Frage raus. Was ich damals wollte, weiß ich nicht mehr. Mittlerweile habe ich zumindest eine Bekannte hier, die in dieser Hinsicht so garnicht spanisch ist, da kann man ohne Umstände gleich sagen, was Sache ist.

Oder wenn man jemanden auf der Straße trifft, stehenbleiben, nicht einfach winken. “Wie geht´s dir?” muss man sagen und dann gibt es wieder ein kleines Gespräch. Wir leben in einer kleinen Stadt und man muss gut überlegen, ob man ins Zentrum geht, weil man da so viele Leute trifft. Wenn man in Eile ist, ist ein kleiner Umweg manchmal schneller. Wenn Du hingegen Zeit hast, gehst du mitten durch die Stadt und flanierst vor dich hin und an jeder Straßenecke bleibst Du stehen und erzählst von Dir und hörst, was die anderen so machen.

“Nicht so direkt”, erinnere ich mich, wenn mein Gegenüber vor mir zurückschreckt. “Sag der Verkäuferin doch nicht einfach so ins Gesicht, dass Dir die Schuhe nicht gefallen.” Alle Sachen, die sie mir heranträgt, wollen gelobt werden: “Das ist sehr schön, aber leider steht mir so etwas nicht. Haben Sie vielleicht noch etwas in einem anderen Stil da?” Manchmal wünschte ich, einfach in einen Schuhladen zu spazieren und mir die Schuhe an- und auszuziehen, wie ich mag und maximal nach der Größe zu fragen. Aber hier muss man auf die Verkäuferin warten, damit sie einem die Schuhe bringt, auf die man in der Auslage zeigt. Und nicht nur im Schuhladen, man wird fast überall ganz altmodisch bedient und manchmal kauft man was, nur weil sich die Verkäuferin solche Mühe gegeben hat. Bei der Wohnungssuche war ich empört, weil die Makler uns anlogen statt zu sagen, “die Wohnung hat jemand anderes bekommen”. Nein, es hieß, der “aktuelle Mieter hat es sich anders überlegt und bleibt doch drin.” Hat er wohl alle Umzugskisten wieder ausgepackt? fragte ich mich damals.

Und auch nach Jahren noch stehen so viele Fettnäpfchen für mich bereit. Absolut garnicht kann ich mich an die hiesige Art und Weise, in der Schlange zu stehen, gewöhnen. Da bin ich deutsch geprägt, ganz automatisch stelle ich mich überall hinten irgendwo an oder da wo ich glaube, dass hinten ist. Manchmal ist es mir auch zu peinlich in einen Raum voller Leute zu kommen und zu fragen “El último?”. Als könnte ich es irgendwie nicht glauben, dass das wirklich so funktioniert. Gestern stand ich so da, in der Bank und wusste nicht, ist das eine Schlange? Und die da sitzen, haben die einen Termin? Also stellte ich mich “hinten” an, bis mich eine der Mitarbeiterinnen fragte, was ich bräuchte und ich sagte es ihr. Und dann nahm sie mich mit zu ihrem Schreibtisch und sofort fing eine Frau an zu zetern, dass ich mich vorgedrängelt habe, schon zweimal, dabei wollte ich doch nur wissen, an wen ich mich wenden muss. Und das war mir wirklich noch peinlicher als zu fragen, wer vor mir gekommen ist, das nächste Mal frage ich also laut und deutlich.

Mein Mutter war im Sommer zu Besuch, wir waren im Dorf, im “pueblo” (das ist nochmal so eine spanische Eigenart und eine andere Geschichte). Jedenfalls waren wir an einem Ort, an den sich niemals ein Tourist verirren würde. Jeder, der dort hinkommt, ist mit irgendjemanden verwandt oder bekannt, sonst hat er keinen Grund, sich dorthin zu verirren. Jedenfalls waren wir da, und alle sprachen sehr laut und bis spät in die Nacht, alle tätschelten die Babies oder nahmen sie gleich auf den Arm, man musste jeden immer grüßen und stehenbleiben und erklären wer man war: “Ich bin die Schwiegertochter von So-und-so, dem Sohn von X, die in der Y-Straße wohnen, ja genau, der Uropa war der Dorfbüttel”. Es war wirklich schwer, ein ruhiges Plätzchen zu finden. Und als wir dann irgendwann endlich mal in der Mittagshitze alleine am Pool saßen, während alle anderen Siesta machten, da sagte meine Mutter: “Du hast Recht, Kathi, in Spanien ist wirklich alles ganz anders.”

Wo die reichen Leute wohnen

Vor einiger Zeit hatten wir uns entschlossen, in die leerstehende Wohnung meiner Schwiegeroma zu ziehen. Eine Mischung aus Geldersparnis und Familiennähe hat uns schließlich dazu bewogen, unser Viertel zu verlassen und den Umzug mit Kind und Kegel in eine neue Umgebung zu wagen. Wenn wir vorher hier zu Besuch waren und die Leute fragten, “Wo wohnt ihr?”, hieß es auf unsere Antwort immer: “Ach, bei den Reichen.” Bei den Reichen, das war im Zentrum, in Strandnähe, wo zwischen den 60er-Jahre Häuserblöcken immer noch ganze Straßenzüge aus den kleinen kastigen Einfamilienhäuschen gebaut sind, die für Spanien (oder Katalonien?) so typisch sind.

In so einem kleinen alten Häuschen wohnten wir. Genauer gesagt, in der oberen Hälfte, das Haus war nämlich irgendwann mal geteilt worden. Unten wohnte eine kleine Familie, links von uns lebte eine ältere Dame, rechts ein nettes Ehepaar mit ihrem Teenager-Sohn. Letzteren sahen wir in vier Jahren genau einmal. Dafür stand die alte Dame schnell auf ihrem Balkon, sobald sie uns auf ebensolchem hörte und war bereit für ein Schwätzchen.

Zu der Straße gehören noch zwei Brüder über achtzig, die gerne gegen fünf Uhr morgens in ihren Landrover steigen, um Wildschweine jagen zu gehen und wegen denen man immer etwas in Sorge war, dass sie sich oder jemand anders aus Versehen erschießen könnten. Wie gesagt, die beiden sind über achtzig. Des Weiteren gibt es noch den sehr alten Herrn L, der im Sommer den ganzen Tag auf einem Klappstuhl auf dem Bürgersteig sitzt und Sardanas aus einem kleinen tragbaren Radio hört. Mit einem kratzigen “Adéu” grüßt er tagein, tagaus die Vorbeigehenden.

So idyllisch, so klein und teuer die Wohnung. Auf zweieinhalb Zimmern und ebensovielen Treppen wurde es uns mit den Mädels einfach zu eng. Also packte ich schweren Herzens des Nachts eine Menge Umzugskartons. Tagsüber machten wir uns daran, Abuelitas Wohnung etwas in Schuss zu bringen. Daraus wurde ein zweiwöchiger Gewaltakt: Die Familie des Mannes hat nämlich einen Hang zum Hamstern. Alles, was man “irgendwann sicher noch mal gebrauchen kann”, wird also verstaut, aufbewahrt und in unserem Fall erneut begutachtet. Je nach Befund durften die vielen vielen Kinkerlitzchen und die leicht ramponierten Oma-Möbel also entsorgt werden – oder sie wurden irgendwo anders wieder verstaut und warten seitdem vertrauensvoll auf ein zweites Leben. Aber irgendwann war die Wohnung tatsächlich leer (bis auf die paar Sachen, die wir behalten haben) und wir konnten endlich streichen und uns an den eigentlichen Umzug machen.

Seitdem könnte man meinen, wir wären in eine andere Stadt gezogen. Wir sind nicht mehr fünf Minuten vom Strand entfernt, sondern eine stramm spazierte halbe Stunde. Unsere Wohnung liegt nicht mehr in einem alten Häuschen, bei dem es bei starkem Regen durchs Dach tropft und eine Ameisenkolonie uns einmal im Jahr besucht. Die neue Wohnung ist in einem dieser (ähem, etwas häßlichen) 60er-Jahre-Wohnblocks. In der Nachbarschaft um uns herum leben vor allem Andalusier, Chinesen, Araber, Afrikaner und Gitanos. Wenn ich Samstags aus dem Fenster schaue, gibt es vielleicht eine Hochzeit im andalusischen Stil mit Sevillanas tanzenden Brautleuten, afrikanische Familien flanieren in wunderschöne traditionelle Stoffe gekleidet zum Park und von irgendwoher höre ich eine Gitana zur elektrischen Orgel Flamenco singen.

Rund um den Platz dekorieren sich jeden Nachmittag die älteren Herrschaften auf den Bänken und schauen und reden. Die Straße weiter runter streiten sich zwei Männer, und angeblich wurde sogar ein Messer gezückt, sagen die Kellner von der Bar an der Ecke. Bei religiösen Anlässen werden große Marienstatuen in unterschiedlich gut besuchten Prozessionen durch die Straßen getragen. Es gibt einen andalusischen Heimatverein, Halal-Fleischereien und einen chinesischen Supermarkt. Der nächste selbstbackende Bäcker ist zwanzig Gehminuten entfernt und im Mercadona gibt es kein einziges Bio-Produkt. Ein Glück wurde vor einer Woche Feta-Käse neu ins Sortiment aufgenommen, den hatte ich vorige Woche noch vergeblich gesucht.

Hier herrscht ein ständiges Stimmengewirr aus allen möglichen Sprachen und bis abends um zehn hört man die Kinder auf dem Spielplatz toben. Vom Balkon aus sehe ich riesige Brandschutzwände aus Asbest und niemand weiß, ob die jemals abgetragen werden, weil die Kosten in Spanien allein beim Eigentümer liegen. Also hoffe ich, dass die in den nächsten Jahren nicht irgendwie korrodieren und unterdrücke meine Sorge um eventuelle Partikelchen in der Luft.

Wie stark beeinflusst ein Wohnort das Leben? Viele Leute aus dem Barrio gehen nur selten ins Stadtzentrum, im Viertel hat es alles, was sie brauchen. Aber hier gibt es keine Bio-Windeln, kein Müsli oder Frühstücksflocken ohne Zucker und die meisten Säfte im Sortiment würden in Deutschland unter “Nektar” laufen. Ein bißchen ist es, wie als wir damals nach Neukölln zogen, kurz vor der Gentrifizierung und ihren Burger-Bratereien, Bio-Produkten im Supermarkt, Galerien und Second-Hand-Läden. Es gibt viel frisches Gemüse, das meiste sicher aus Spanien, wenn auch aus dem Süden. Wenn man darauf achtet, kann man sicher auch hier sehr gut regional einkaufen. Die Kollegen meines Mannes sagen, ich wäre eine “pija”, also irgendwas zwischen Schnöselig und versnobt, wenn ich davon erzähle. Dabei ist ja garnicht mein Punkt, dass ich mich beschwere, was es hier nicht gibt, sondern dass den Menschen der Zugang zu bestimmten Produkten erschwert wird. Bio muss man sich natürlich auch leisten können. Trotzdem ist es schon etwas umständlich für ein paar Windeln einen Abstecher ins Zentrum zu machen. Als ich gestern mit den meinen zwei Paketen Windeln auf dem Arm nach Hause spazierte, hielt mich eine Schwangere an und fragte, wo ich die her hätte. “Vom Bio-Supermarkt im Zentrum” seufzte ich. “Ach so…na immerhin gut zu wissen, sonst bringt mir meine Mutter immer welche aus der Nachbarstadt mit”, sagte sie. Und genau darum frage ich mich, wie sehr der Wohnort eine bestimmte Lebensweise unterstützt oder eben erschwert oder sogar die Gesundheit beeinträchtigt.

Wenn ich jetzt ins Zentrum spaziere, fällt mir vor allem auf, wie wenig Menschen auf den Straßen sind. Alles ist sauber und ordentlich. Abends werden die Bürgersteige hochgeklappt, außer auf den Terrassen der Bars sieht man kaum jemanden. Es ist ruhig, ein bißchen langweilig und beschaulich. Auf den Straßen hört man hauptsächlich katalanisch und zu den Festivitäten gibt es mehr Gegantadas zu sehen als Marienstatuen.

Wer weiß, wohin es uns in den nächsten Jahren verschlägt? Jetzt versuchen wir erstmal hier anzukommen, in dieser neuen alten Umgebung.

Vereinbarkeitsbrei

Es gibt Tage, an denen es mich einfach erwischt. Tage, an denen alles super gelaufen ist, auch wenn der Mann mal länger arbeiten musste. Wir waren draußen (die Babies und ich), wir hatten Spaß (die Babies und ich) und es gab Essen zu den richtigen Essenszeiten (vor allem für die Babies). Tage, an denen alles gepasst hat und ich ein bißchen stolz auf mich war, den Zwillingsalltag so gut zu meistern.

Dann liegen die Babies friedlich schlafend im Bett, das Wohnzimmer sieht nicht mehr nach Kindergarten aus, der Mann und ich genießen beim Abendessen die ersten ruhigen Minuten und wusch! öffnen sich die Schleusen und ich sitze schniefend am Tisch und finde alles doof.

Naja, alles nicht. Aber die Unvereinbarkeit von Berufsleben, Alltag, Familie und Ich-Sein. Das hätte ich gerne alles gleichzeitig. Überraschenderweise bin ich durch das Mama-Sein nicht zu einer Frau mutiert, deren Lebensglück einzig und allein in der Aufzucht ihrer Kinder liegt. Auch wenn mich die Zeit, die ich mit den Babies verbringe, ausgesprochen glücklich macht. Trotzdem mag ich meinen Beruf, würde gerne mal ein paar Freunde treffen und träume von echter Arbeitsteilung. Und davon, dass Kinder in den Berufsalltag aller Beteiligten integriert werden können.

Die letzten Monate hat der Mann Vollzeit gearbeitet (bis auf die ersten fünf Wochen nach der Geburt), während ich Vollzeit mit den Babies zu blieb. Weil ich Stillen wollte, hielten wir das für eine gute Idee. Und solange ich noch voll gestillt habe, war es das auch. Mit zehn Monaten schaffen es die Babies es aber auch mal eine Weile ohne mich und ein kleiner Ausflug in die Erwachsenenwelt ab und an wäre schon fein…

Arbeiten? Ja, gerne!

Vor der Babyzeit hätte ich nie gedacht, dass mir meine Arbeit fehlen würde. Ein Jahr Auszeit wollte ich bitte haben und mich ganz bewusst meinen Babies widmen. So wie in Deutschland. Das habe ich auch gemacht und sehr genossen. Jetzt denke ich, ab und zu ein kleiner Ausflug in die Arbeitswelt hätte mir sicher nicht geschadet (und unserem Geldbeutel auch nicht). Wie auch immer, zwischen allgemeiner Müdigkeit, Baby-Spaß und Wochenende-Aktionen hat es dazu nicht gereicht. Auch, weil es mir nie darum ging, die Kinder irgendwie wegzuorganisieren, um vorm Rechner hocken zu können.

Als Ganztags-Babybeauftragte erscheint mir jedoch der Gedanke, einfach so aus dem Haus zu gehen und nicht ständig von zwei Augenpaaren beobachtet zu werden, manchmal geradezu himmlisch. Dann bin ich neidisch auf des Mannes Arbeitszeiten: Alleine! Nein, mit Kollegen in einem Büro vorm Computer zu sitzen und Stunden (!) konzentriert (!!) zu arbeiten, ein Traum… Natürlich weiß ich, dass das so überhaupt nicht stimmt und die Bilder in meinem Kopf höchstens drittklassige Arbeitswelt-Stockfotos sind.

In meinen Tagträumen arbeiten der Mann und ich Teilzeit und unser Leben ist gleichwertig zwischen Arbeit, Babies und Erwachsenenalltag aufgeteilt. Ja, haha, ich weiß, das ist utopisch. Gerade hier in Spanien, wo der Mutterschutz so kurz ist und Väter erst seit 2017 einen ganzen Monat zur Geburt freibekommen. Da kann ich froh sein, dass ich die Babies nicht mit vier Monaten abstillen und in die Kinderkrippe geben musste.

Mama einsam

Eine so lange Babyzeit zu haben, sehe ich durchaus als Privileg. Fast alle anderen Mütter, die ich hier vor Ort kenne, haben spätestens nach einem halben Jahr ihre Babies bei den Großeltern gelassen oder in die Krippe gegeben.

Wenn ich den Kinderwagen samt Babies aus dem Haus habe, treffe ich auf meinen Spaziergängen an der Strandpromenade entweder joggende Mütter mit Babies unter drei Monaten, kinderwagenschiebende Großeltern oder Rentner mit und ohne Hund. Ähnliches spielt sich in den leeren Supermärkten ab. Der Kontakt zu anderen Erwachsenen ist entsprechend selten.

Zum Glück gibt es “das Internet”, wo ich auf diversen Blogs herumlesen kann und sehe, dass ich nicht alleine mit meinen Gedanken bin. Schön, dass es so viele Frauen gibt, denen es ähnlich geht, die schreiben, die twittern, die für einen da sind. Irgendwie seltsam aber auch, dass wir alle da so einzeln in unseren Wohnungen sitzen und vor uns hin schreiben.

Richtig getroffen hat mich die Mama-Einsamkeit das erste Mal nach drei Monaten, als die Babies so wahnsinnig abhängig von mir waren. Da hängt man da und kommt zu nichts, schafft es kaum zu duschen und ist quasi am dauerstillen oder so doof mit den eingeschlafenen Babies verwurschtelt, dass man da nicht wieder raus kommt ohne mindestens ein Baby zu wecken. Da dachte ich immer: Wie zur Hölle haben die das früher gemacht? Schon geistert einem der afrikanische-Dorf-Spruch durch den Kopf. Oder die steinzeitlichen vier Stunden “Arbeitszeit”, die angeblich reichen sollen, um genug Wild zu erlegen und Beeren zu sammeln. Da konnte man ja sogar noch in Ruhe Höhlenwände bemalen UND sich um die Babies kümmern!

Seit wann gibt es diese Aufteilung, seit wann wird Familie so gelebt wie heute? Unsere Lebensweise gibt es ja noch garnicht so lange. In Städten, Dörfern, auf Bauernhöfen? Wer hat sich da alles um Kinder gekümmert? Da gab es ja sicher auch Standesunterschiede. Wie haben sich Familien früher organisiert? Sollte ich irgendwann mal wieder Langeweile haben, werde ich das mal recherchieren. Bis dahin denke ich mir eine Mischung aus Großfamilie, Bullerbü und Stammesleben. So in etwa wird´s wohl gewesen sein.

Oder ich stelle mir vor, eine rotbackige Bäuerin auf Lönnerberga zu sein. Meine Kinder würden den ganzen Tag barfuss dem Knecht Wie-hieß-der-noch? hinterherrennen. Wenn sie dann endlich rennen können. Zugegebenermaßen müsste ich als Bäuerin ziemlich früh aufstehen, aber immerhin hat Michels Mama auf Lönnerberga jeden Abend Zeit, seine Streiche aufzuschreiben, also wird das schon passen (so gesehen hat sie ja quasi den Mama-Blog erfunden).

Jetzt ist meine Babyzeit bald vorbei, und ich werde langsam aber sicher wieder am Erwachsenenleben teilnehmen können. Darauf freue ich mich: Mit erwachsenen Menschen zu sprechen, in Ruhe vorm Computer zu sitzen und Pixel hin und her zu schieben. Und meine Babies machen ihre ersten Schritte in Richtung Selbstständigkeit – die Zeit, die Zeit, wie sie vergeht!

Es wäre so schön, wenn man das mit der Arbeit und den Kindern und dem Leben irgendwie unter einen Hut bekäme. Dann würde ich die Babies mit ins Büro nehmen, wo es eine Spielwiese gäbe und jeder würde sich mal ein paar Minuten mit ihnen beschäftigen. Vielleicht wäre das ja auch eine gute Methode zur Entschleunigung? Niemand müsste seine Kinder abgeben, damit er acht Stunden vorm Rechner sitzen kann, sondern alle kümmern sich gemeinsam um sie.

Und, wovon träumt ihr so?

Seite 2 von 3

Präsentiert von WordPress & Theme erstellt von Anders Norén

Klicken Sie hier, um Google Analytics zu deaktivieren.